Eigentlich wollte ich meinem Roman Geschichte der Unordnung ein umgekehrtes Rainald-Goetz-Motto voranstellen. Don‘t work – cry! Aber manchmal hilft nicht weinen, sondern arbeiten, so wie Goetz es damals verkündete. Don’t cry – work, das steht hinten auf seinem punkigen Durchbruch-Roman Irre. Alles was Goetz schreibt, ist Verkündigung. Manchmal hilft nur Härte, predigt er. And he puts his money where his mouth is. Härte kriegt man bei ihm immer, jederzeit, bitte, gerne, danke, boing!, wieder voll auf die Zwölf. Während andere noch den Kniefall übten, entlarvte Goetz den damals mächtigen Frank Schirrmacher schon als halbseiden und machte sich über die jetzt ja zerbrochene Springer-Posse Döpfner/Stuckrad-Barre/Poschardt lustig – loslabern heißt das Buch. Das ist aber noch nicht alles. Wer wissen will, wie weit man die deutsche Sprache brechen, biegen und neuformen kann, kommt an Goetz nicht vorbei, er ist ein Gott der Sprachkunst, siehe Irre, siehe aber auch seinen technoiden Geniestreich Rave. Sogar der Intellektuelle Ivan Nagel, dem man weder Techno- noch Punk-Attitüden nachsagen kann, hat einmal sinnend eingestanden: Ja, Irre ist gut – also die ersten 100 Seiten … Ich schaute damals, im Hof des Berliner Ensembles stehend, verlegen auf Nagels Budapester Schuhe und dachte im Stillen: Von wegen nur die ersten Seiten ... 

Da liegt eben der Unterschied. Was ich nach innen spreche, Goetz würde es raushauen.

(Rainald Goetz, „loslabern“ 187 S. 9783518464243 Suhrkamp 8 €)

(Rainald Goetz, „Irre“ 330 S. 9783518377246 Suhrkamp 10 €)

Mal wieder in irgendeinem ärztlichen Vorzimmer, ich kämpfte mit meiner Angst- und Panikstörung und kam beim Lesen von Angelika Klüssendorfs Jahre später, dem letzten Teil der Trilogie um die Protagonistin Namens April, an einen sehr düsteren, todes-atmosphärischen Punkt in dem Buch. Da geht es um Suizid, eine Frau will ihrem Leben ein Ende bereiten, weil sie die Angst nicht mehr aushält, „ihre Tochter habe sie gefunden, als sie mit einer Plastiktüte über dem Kopf auf ihre Wiedergeburt wartete.“ Das haute mich erstmal um. Ich bekam Angst, der Tod öffnete seinen gierigen Schlund, ein schwarzes, alles verschlingendes Loch. Es fraß mir den Sessel weg, die Armlehne, den Halt. Den Atem. Mühsam starrte ich auf die Buchseite, versuchte, mich zu beruhigen. Und dann las ich den Satz, den die Frau nach ihrem gescheiterten Selbstmordversuch sagt. Jemand fragt sie, als was sie denn hätte wiedergeboren werden wollen. „Ich würde gerne ein Mensch sein“, antwortet sie. Ich musste lachen, wegen der durch Panik verursachten Atemunordnung klang es eher wie ein Huster, aber es fühlte sich wie himmlisches Glockenläuten an. Ich würde gerne als Mensch wiedergeboren werden, sagt sie … Genial! 

Klüssendorfs April-Trilogie (Das Mädchen, April, Jahre später) hat Gustav Seibt mal auf Facebook (wenn ich mich richtig erinnere) als eines der ganz wichtigen literarischen Werke der Gegenwart bezeichnet. Wie die Protagonistin April ihr Heimatland DDR und dann die BRD erlebt, aus fürchterlichsten Familienabgründen von ganz unten nach ganz oben kommt, aber innerlich nie da ist, wo sie sein will – ich weiß nicht, was ich noch mehr sagen soll, bitte einfach (wieder)lesen! Zumal der erste Band Das Mädchen legendär beginnt: „Scheiße fliegt durch die Luft, streift die Äste einer Linde, trifft das Dach eines vorbeifahrenden Busses, landet auf dem Strohhut einer jungen Frau, klatscht auf den Bürgersteig.“ Wenn man dann versteht, warum da Exkremente fliegen, kann man sich noch überlegen, ob man lachen oder doch lieber heulen will. 

Oder arbeiten, yay …

(Angelika Klüssendorf,
Das Mädchen“ 192 S. 9783492318532 Piper 12€)

April“ 224 S. 9783492318525 Piper 12 €)

Jahre später“ 160 S. 9783492318518 Piper 12 €)

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